2,0 su 5 stelle
Anfangs erstaunlich gut, am Ende erstaunlich flach
Recensito in Germania 🇩🇪 il 23 ottobre 2020
Zu Lisa Jewell habe ich eine besondere Beziehung: Es gibt Romane von ihr, die erreichen mein Herz, die berühren mich tief - und dann wieder habe ich dermaßen schlechte Storys von ihr gelesen, bei denen ich mich fragen musste, ob diese wirklich von derselben Autorin sind.
Grundsätzlich bin ich immer etwas voreingenommen, wenn AutorInnen, die ursprünglich aus der leichten (aber nicht unbedingt seichten!) Unterhaltungs- und Beziehungskistenecke kommen, plötzlich meinen, Krimis schreiben zu müssen. Da habe ich von Lisa Jewell auch schon mal einen eher missglückten Roman („Der Fremde am Strand“) in Händen gehalten, und deswegen hatte ich kein ganz gutes Gefühl beim vorliegenden Werk.
Jedoch: Lisa Jewell überraschte mich bis zur Mitte von: „Weil niemand sie sah“ äußerst positiv! Mir war zwar recht schnell klar, wie die grobe Linie der Story gestrickt war, aber das tat meinem Lesevergnügen keinen Abbruch, weil Lisa Jewell über weite Strecken in diesem Roman das macht, was sie sehr, sehr gut beherrscht: Die Gefühle von Personen zu spiegeln, vor allem die Gefühle von Frauen (in diesem Fall gelingt ihr das bei Laurel wunderbar). Und sie tut das sehr lange Zeit, ohne zu sehr in den Schmalztopf zu greifen - das ist genau das, was ich an ihr in ihren guten Romanen schätze: Diese Fähigkeit, eine Wärme in ihre Worte zu legen, die authentisch ist, als Leser kann man das, was Laurel fühlt, 1:1 nachvollziehen, das ist einem sehr nah, da findet fast eine Verschmelzung zwischen der Protagonistin im Roman und dem Leser statt, die aber nie kitschig wird. Lisa Jewell zeichnet grundsätzlich aus, dass sie Unterhaltungsromane so schreiben kann, dass sie tatsächlich etwas mit Haltung zu tun haben.
Wie gesagt: Bis etwas über die Mitte des Romans, war ich sehr angetan, und auch, wenn ich bis dahin schon ein paar logische Hänger im Plot bemerkte, so störten mich diese nicht groß, denn wenn eine Geschichte prinzipiell gut erzählt ist, dann sehe ich darüber hinweg.
Aber dann... Nein, dann gefiel mir der letzte Teil des Romans leider überhaupt nicht mehr. Mir kam es vor, als habe Lisa Jewell den Rest ihrer Story sehr viel später geschrieben als den Anfang, das wird plötzlich alles holperig, hektisch, ungenau, es wird dann auch schrecklich melodramatisch und esoterisch und nicht zuletzt büßt der Roman dann auch an Glaubwürdigkeit ein. Die letzen 15 bis 20 Kapitel sind leider Schrott, das muss man so sagen, und wieder fragte ich mich, wie eine grundsätzlich so begabte Autorin urplötzlich jegliches Talent vermissen lässt und eine gute Geschichte fast zwanghaft in eine hanebüchene Räuberpistole abdriften lassen kann.
Auf einmal stimmt in dieser Geschichte nicht mehr viel: Schon anfangs wunderte ich mich - da wird Ellie als superkluges Mädchen von 15 Jahren beschrieben, das quasi in diesem zarten Altern bereits vor dem Abitur und dem Sprung auf die Uni steht - und dieses intelligente Mädchen glaubt an eine unbefleckte Empfängnis und an eine Jungfrauengeburt? Sehr merkwürdig!
Generell wundert man sich gegen Ende, dass hier lauter intelligente Menschen sehr dumme Gedanken haben und auch sehr dumme Dinge tun - das ist alles wenig glaubwürdig.
Anstrengend fand ich irgendwann auch diesen etwas unorthodoxen und abrupten Wechsel der Erzählperspektiven - es gibt lange Passagen, in denen die Ich-Form dominiert, und plötzlich wird man herausgerissen, und dann wird wieder - quasi aus dem Off - die beschreibende Sicht auf die Dinge eingenommen. Das fand ich im letzten Drittel des Romans jeweils einen zu harten Cut.
Auch das Lektorat schien an der einen oder anderen Stelle ein bisschen gepennt zu haben - im Text stolperte ich immer mal wieder über Ungenauigkeiten oder falsche Angaben - als Beispiel sei hier genommen, dass Floyd zu Laurel sagt, im Haus befinde sich „kistenweise“ Christbaumschmuck, den er jetzt gleich mal vom Dachboden runterholen werde, und dann kehrt er mit zwei Tüten voller Lametta und Kugeln zurück. Ich dachte, es seien „Kisten“? Solcherlei Holprigkeiten finden sich öfter.
Letztlich geht mir gegen Ende auch alles zu schnell; der emotionale Umschwung zwischen Floyd und Laurel ist zu übergangslos, das passiert zu plötzlich. Und am Ende wird Laurel von Floyd in eine Situation gebracht, die sie sich nicht selber aussuchen konnte und in der sie zwar sicherlich glücklicher als zuvor ist, die aber im weitesten Sinne auch eine Vergewaltigung darstellt, weil Laurel überhaupt nie die Möglichkeit hatte, selber entscheiden zu dürfen, was sie möchte, sondern zu einer Pflicht verdonnert wird, die Floyd, der sich aus allem rauszieht, so für sie ausgesucht hat.
Fazit: Das hätte echt was Gutes werden können - am Ende bleibt der Roman aber leider nur im unteren Mittelmaß stecken. Schade.
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